Montessoripädagogik im Wandel der Zeit
„Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns so alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen.“ - Maria Montessori
Der Ruf nach alternativen Erziehungsmethoden wird immer größer. In einer so schnelllebigen Zeit wie der unseren entsteht das Bedürfnis nach Rückbesinnung und Entschleunigung. Gleichzeitig steht man als Eltern vor der schwierigen Aufgabe herauszufinden, was für unsere Kinder das Beste ist – aus all den vielen Möglichkeiten! Das kann schonmal überfordernd sein. Wie auch in der Waldorfpädagogik sehen viele Eltern in der Montessoripädagogik die Chance für eine möglichst freie und naturnahe Entwicklung ihrer Kinder. Was hat es damit auf sich?
Maria Montessori
Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle (Italien) geboren. Nach einer sechsjährigen Grundschulzeit beschloss sie auf eine naturwissenschaftliche Sekundarschule zu gehen, die zu dem Zeitpunkt normalerweise nur von Jungen besucht wurde. Sie schloss die Schule mit großem Erfolg ab und wollte anschließend Medizin studieren. Das war jedoch noch eine reine Männerdomäne und ihr wurde die Zulassung verwehrt. So studierte Maria Montessori zunächst Naturwissenschaften an der Universität in Rom, bis ihre Bemühungen 1892 endlich Erfolge hatten und sie als eine der ersten Frauen in Italien zum Medizinstudium zugelassen wurde. Dabei war sie unzähligen Diskriminierungen ausgesetzt, zum Beispiel durfte sie beim Sezieren von Körpern nicht mit Männern in einem Raum sein, sodass sie abends und allein im Anatomiesaal arbeiten musste. Im Jahr 1896 wurde Montessori schließlich an der Universität Rom im Fach Psychiatrie promoviert. Zwischen 1896 und 1906 arbeitete sie zunächst in einer chirurgischen Klinik, später begann sie, sich für Pädagogik zu interessieren und war in einer psychiatrischen Klinik für geistig behinderte Kinder tätig. Sie war schockiert über den schlechten Zustand der Klinik sowie die Verwahrlosung der Kinder und engagierte sich für eine Besserung. Maria Montessori arbeitete dabei eng mit ihrem Kollegen Giuseppe Montesano zusammen. Aus dieser Beziehung entstand der gemeinsame Sohn Mario, der 1898 zur Welt kam. Doch Mario war ein uneheliches Kind und das Bekanntwerden dieser Tatsache hätte Maria Montessori ihre Karriere gekostet. Sie beschloss daher schweren Herzens, ihn in eine Pflegefamilie zu geben, wo sie ihn häufig besuchte. Vielleicht war die Tatsache, dass sie ihr eigenes Kind nicht erziehen konnte, der Grund, dass sie so um die bestmögliche Erziehung aller Kinder bemüht war. Maria Montessori konnte ihren Sohn erst wieder zu sich holen, als er schon 15 Jahre alt war.
Erste pädagogische Grundzüge
Während ihrer Tätigkeit in der psychiatrischen Klinik beobachtete Maria Montessori das Phänomen der „Polarisation der Aufmerksamkeit“ – die völlige Hingabe und Selbstvergessenheit eines Kindes beim Spielen. Montessori ging davon aus, dass Kinder in solchen Phasen der tiefen Konzentration grundlegende Erkenntnisse über sich und die Welt erlangen. Daher würden die Kinder, je nachdem, in welcher Entwicklungsphase sie sich gerade befinden, instinktiv zu den passenden Materialien greifen. Maria Montessori erkannte die Wichtigkeit, den Kindern während solcher Episoden einen ungestörten Raum zu geben und ihre Konzentrationsfähigkeit durch verschiedene Sinnesübungen zu unterstützen. Der Grundstein für die Montessoripädagogik war gelegt. Maria Montessori entwickelte ihre Methode fortwährend weiter, arbeitete an Schulen, hielt Vorträge und schrieb Bücher. Ihre Werke Il metodo della pedagogia scientifica (erste Fassung 1909, danach ständig erweitert) und L’autoeducazione (1916) wurden weltweite Erfolge und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Montessori-Bewegung war international geworden, überall in der Welt wurden Montessori-Kinderhäuser und Montessori-Schulen eröffnet. Wie auch Rudolf Steiner verkehrte Maria Montessori im Umfeld der Theosophischen Gesellschaft und hielt dort Vorträge sowie Ausbildungskurse. Ein religiöser Einfluss von Theosophie und katholischem Glauben im Werk Maria Montessoris wird bis heute kontrovers diskutiert.
Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges 1939 wurden die Montessori-Schulen in Italien, Deutschland, Spanien und Russland geschlossen und Maria Montessori floh mit ihrem Sohn nach Indien. Dort gelang es ihr, wiederum ein großes Netzwerk aufzubauen und es entstand eine indische Montessori-Bewegung. Nach dem Ende des Krieges kehrte Maria Montessori nach Europa zurück und verbreitete ihr Lebenswerk mit zahlreichen Reisen und Vorträgen weiter, bis zu ihrem Tod 1952 in den Niederlanden. Die Inschrift auf ihrem Grabstein lautet:
„Ich bitte die lieben Kinder, die alles können, mit mir zusammen für den Aufbau des Friedens zwischen den Menschen und in der Welt zu arbeiten“.
„Hilf mir, es selbst zu tun“
Die zentralen Elemente der Montessoripädagogik bilden die Freiarbeit und die vorbereitete Umgebung mit Montessori-Materialien. Die Kinder bestimmen durch freie Wahl ihre Tätigkeiten und können diese frei und unabhängig von Erwachsenen ausführen. Eine vorbereitete Umgebung im Innen- und Außenbereich lädt die Kinder dazu ein, die Zusammenhänge der Welt zu erforschen. Dabei ist jeder Gegenstand nur einmal vorhanden und hat seinen festen Platz. Durch Bewegungsmöglichkeiten und das Spiel mit geometrischen Gegenständen, erlernen die Kinder wissenschaftliche Zusammenhänge wie Schwerkraft, Mathematik oder abstrakte Begriffe, wie Größe und Gewicht. Maria Montessori hat ihre Pädagogik und die dazugehörigen Materialien vor allem anhand von Beobachtungen der Kinder entwickelt. Mit dem, was sie unvoreingenommen gesehen und erkannt hat. Die freie Wahl des Spielzeugs und der Beschäftigung ermöglicht es den Kindern, ihre Bedürfnisse und Stärken zu leben. Der viel zitierte Satz „Hilf mir, es selbst zu tun“, den Maria Montessori einmal von einem Kind zu hören bekam, bringt die Grundidee der Montessori-Erziehung auf dem Punkt. Maria Montessori glaubte an einen inneren Bauplan im Kind, in dem bereits alle Anlagen für eine bestmögliche Entwicklung vorhanden sind. Der innere Wachstumsprozess des Kindes folgt seinem ganz eigenen Tempo und darf nicht von außen beschleunigt werden.
Montessoripädagogik heute
Es gibt eine Vielzahl von Montessori-KiTas,-Kindergärten und -Schulen in Deutschland. Nach der Idee von Maria Montessori hat sich das Konzept stetig weiterentwickelt und umfasst heutzutage beispielsweise auch musikalische und künstlerische Tätigkeiten, die früher kaum berücksichtigt wurden. Neben dem klassischen Montessori-Spielzeug finden sich in den Einrichtungen auch Pikler- und Hengstenbergmaterialien. Bei der Auswahl der Gegenstände wird auf Ökologie und Natürlichkeit Wert gelegt, die Kinder sollen sich daher vor allem mit Holzspielzeug beschäftigen. Nachhaltig produziertes, zertifiziertes Montessori-Spielzeug gibt es zum Beispiel hier im Natureich-Shop.
Montessori- Schulen
An Montessori-Schulen wird üblicherweise altersübergreifend unterrichtet, das heißt, eine Klasse ist aus drei verschiedenen Klassenstufen zusammengesetzt. Schulnoten werden es erst ab der 9. Klasse eingeführt. An einer Montessori-Schule wird kein Frontalunterricht praktiziert, die Schüler lernen, sich während der Freiarbeit selbst zu motivieren und Zusammenhänge selbst zu erkennen. Eigene Erfahrungen können oft besser verinnerlicht werden als Vorgetragenes. Dieses System kann nur Erfolg haben, wenn den Kindern und Jugendlichen die Freude am Lernen erhalten bleibt. Man lernt am besten, wenn man interessiert und motiviert ist. Nach diesem Prinzip wird an Montessori-Schulen gearbeitet.
Montessori oder Waldorf?
Montessori- und Waldorfpädagogik werden oft in einem Atemzug genannt. Doch neben vielen Gemeinsamkeiten gibt es auch einige Unterschiede. An Waldorf-Einrichtungen ist das Prinzip der Nachahmung wichtig – Kinder sollen in ihrem natürlichen Drang alltägliche Situationen nachzuspielen unterstützt werden, um sich so die Welt zu erschließen. In der Montessoripädagogik geht es vor allem darum, Dinge neu zu erfinden und selbst herauszufinden. In der Waldorfpädagogik spielt Musik, Kunst und Handwerk eine große Rolle. Auch Spiritualität hat einen höheren Stellenwert. Mit dem Erzählen von Märchen und Geschichten wird die Phantasie angeregt. Den Kindern soll ein Stück unbeschwerte Kindheit zurückgegeben werden, da die heutigen Umstände dies meist erschweren. Waldorfschüler ergreifen oft künstlerische Berufe und sind äußerst geschickt im Basteln, Gärtnern und anderen kreativen Bereichen. Montessori-Schüler findet man hingegen häufig in naturwissenschaftlichen oder technischen Berufen. Aber das ist natürlich nicht zwangsläufig der Fall, es gibt auch viele Gegenbeispiele. Zudem kommt es auch sehr auf die Einrichtung an. Jede Schule und jeder Kindergarten folgt seinem ganz eigenen Konzept. Eltern, die sich noch unsicher sind bei der Entscheidung, sollten sich auf jeden Fall die Zeit für einen Besuch der jeweiligen Einrichtung nehmen. Die Zweifel erledigen sich dann meist von selbst.
Mit humanistischen und bedürfnisorientierten Erziehungsmethoden schaffen Waldorf- und Montessoripädagogik gleichermaßen einen Gegenentwurf zu dem üblicherweise von Regeln, Strafen und Hierarchien geprägten Leben von Kindern. Beide Ansätze waren ihrer Zeit weit voraus.
Auch heute noch sind wir von der jahrhundertelangen autoritären Erziehung unserer Eltern und Großeltern geprägt. Allzu lange mussten sich Kinder ihren Eltern unterordnen, ihre Bedürfnisse, denen der Erwachsenen unterstellen. Der kulturelle Weg in eine kindgerechtere Erziehung ist ein langer Prozess. Die bewusste Abkehr von dem Impuls zu sagen „Jetzt sitz doch endlich still“ oder „Mit dem Essen spielt man nicht“ ist geradezu eine elterliche Meisterleistung. Die eigene Prägung sitzt tief und der Alltags-Stress macht es uns nicht gerade leichter. Heute wissen Ärzte und Wissenschaftler um die außerordentlich prägende Zeit der ersten Lebensjahre. Was in dieser Zeit zerstört wird, ist irreparabel. Aber auch die positiven, fördernden Impulse beeinflussen ein Leben lang. Ein Kind, das sich in seinem eigenen Tempo entwickeln durfte und gelernt hat, sich selbst und der Welt zu vertrauen, ethisch zu handeln und seine Ziele zu verfolgen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem glücklichen, ausgeglichenen und empathischen Erwachsenen. Montessori- sowie auch Waldorfpädagogik ist außerdem Friedenspädagogik, über alle sozialen und religiösen Grenzen hinweg.
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